Das Medium ist eine Baustelle

postcard

„One glimpse of newspaper future how it looked like 20 years ago“
PostCard, 1992 – by Mark Potts – Quelle

Als ein großes Hindernis für Onlinejournalismus erweisen sich zunehmend die Content Managment Systeme, die CMS. In die Jahre gekommen, zeigen sie sich ebenso unflexibel, wie die älteren Generationen der Druckmaschinen, die nur ein Papierrollenformat verarbeiten können.

Das Konzept der CMS stammt aus der Steinzeit des Internets: Mitte der 90er Jahre kamen die ersten ihrer Art auf den Markt; das wohl bekannteste System, Typo3, gibt es seit 1998 und wurde 1999 als Open Source veröffentlicht. WordPress kam später – 2003 erschien eine erste Version. Mehr zur Geschichte der CMS hier.

Tatsächlich waren CMS seinerzeit ein Fortschritt. Nicht mehr jede einzelne Website musste händisch als HTML-Code zusammengestellt oder mit Programmen wie Dreamweaver verwaltet werden; stattdessen generierte die Website anhand einer wachsenden Datenbank aus Artikeln, vorgegebener thematischer Hierachien und diversen Code-Versatzstücken adhoc ein Webpage für den jeweiligen Besucher.

Doch heute erscheinen die CMS seltsam starr. Wirklich Neues kann dort nicht mehr passieren. Das liegt nicht zuletzt daran, dass vor Jahren große Investitionen in sie geflossen sind, es gibt Verträge zu würdigen und zahllose Stunden an Trainings und Schulungen von Mitarbeitern sind vergangen; sich von diesen Softwaremaschinen zu trennen und etwas Neues einzuführen, bedeutet für Redaktionen und Verlage einen finanziellen und organisatorischen Kraftakt. So gibt es zwar immer wieder Relaunches, doch nicht selten bleibt das Redaktionssystem dahinter das selbe und damit auch seine ihm eigene eingeschränkte Funktionalität.

Bei meiner Arbeit mit OpenDataCity und auch für Lokaler (wir suchen dafür übrigens Betatester)  komme ich mit meinen Kollegen immer wieder mit CMS verschiedener Redaktionen in Berührung. Für komplexere datenjournalistische Stücke oder dem Bereitstellen von Datenströmen über ihre Informationen sind die schlecht vorbereitet.

Mit einigen zentralen Paradigmen, die CMS etabliert haben und aus dem Printwesen mitschleifen, sollte gebrochen werden. Der neue Chef des BBC brachte es kürzlich in einer Rede an seine Mitarbeiter so auf den Punkt:

We need to be ready to produce and create genuinely digital content for the first time. And we need to understand better what it will mean to assemble, edit and present such content in a digital setting where social recommendation and other forms of curation will play a much more influential role.

Richard Gingras – „director of news and social products“ bei Google – hielt Anfang August eine Rede; vor allem der zweite Teil davon ist lesenswert, weil sie von der Situation jetzt und möglichen Entwicklungen in der Zukunft des Medienwesens handelt.

Er sagte zum Beispiel, dass durch Suche und Social Media etwa Dreiviertel der Besucher einer Zeitungswebsite direkt auf einer Artikelseite landen und nicht mehr auf die zentrale Homepage gelangen (vor vier Jahren waren das noch etwa die Hälfte). Gingras fragte:

What do these changes in audience flows say about site design? Indeed what do they say about the very definition of a website. Should we not flip the model and put dramatically more focus on the story page rather than the home page? Or for that matter, on that corpus of content and media we call a “story. How do we approach content architecture in an edition-less medium with a near limitless capacity for storage and accessibility?

In dem faszinierenden Artikel A Vision for A Future of Newspapers – 20 Years Ago berichtete Mark Potts neulich über ein Konferenz, die 1992 in Kalifornien stattfand. Auf der wurde sich damals – als das World-wide-web gerade heraufdämmerte – von Computerexperten Gedanken über die Zukunft des Publishing gemacht. Ein Mitarbeiter der Washington Post, Robert G. Kaiser, reiste dort hin. Dieser, selber fachfremd, verfasste über dieses Treffen ein Memo – ich empfehle es komplett zu lesen (pdf). Ein Teil der Prognosen waren recht zutreffend. Aber vor allem ist der Ton des Papiers besonders. Weil es leicht skeptisch, aber auch überwältigt von einer Zukunft zeugt, die für uns heute Realität ist.

Inspiriert von diesem Memo entwarf Mark Potts „PostCard“ – faktisch eine Zeitungswebsite (siehe oben – Potts erlaubte mir freundlicherweise die Wiedergabe hier im Blog). Man muss bedenken: Es gab damals noch kein Websites und keine Browser – dennoch hat sich letztlich seit diesem  Entwurf auf vielen Zeitungswebsites konzeptionell nichts getan. Potts jedenfalls erhielt ab dann den Auftrag, sich über die Digitalisierung der Washington Post für den Bildschirm Gedanken zu machen.

Potts Bilanz nach 20 Jahren:

Newspaper Web sites, while popular, still aren’t fully „computer products.“ Their innovation has generally stalled—and is now being further outpaced by the advent of social media and mobile platforms like tablets and smartphones. The best ideas in newsgathering, storytelling, audience engagement, distribution and advertising are mostly coming from outside the traditional news business.

Tatsächlich sollten Newswebsites keine Scheu haben, Konzepte und Methoden von anderen zu übernehmen. Etwa im Kommentarwesen. Markus Beckedahl hat jüngst eine Debatte darüber angestoßen. Und warum integriert man nicht Ideen, wie etwa die von Soundcloud: Dort kann im Musikstück an jeder beliebigen Stelle kommentiert werden (YouTube erlaubt das mittlerweile auch). Warum geht das bei Zeitungsartikeln nicht, warum kann ich mich da nicht auf einen Satz oder Absatz beziehen?

Die profane Antwort: Das ist bei den heutigen CMS so nicht vorgesehen. Außerdem ist neben dem Text kein Platz für Kommentare – da muss die Werbung hin. Klar ist auch, dass allein durch ein neues Kommentarverfahren die Qualität der Diskussion nicht automatisch besser wird. Kommentare könnten aber wesentlich mehr sein, als die oft stiefmütterlich behandelte digitale Variante des Leserbriefs. Man denke nur an einen Hybrid aus Newswebsite, Wiki und Crowdsourcingplattform.

Grundsätzlich muss sich davon verabschiedet werden, dass Websites wie Printzeitungstitel funktionieren können. Der Medienwissenschaftler Clay Shirky schrieb neulich

We don’t select publications anymore, we select links. Even as the Web grew, publisher sassured one another that the need for a trusted news source would preserve newspapers’ relevance, but it turned out that the trust we have in our friends is, for most of us, an adequate substitute for deciding what to read, watch, or listen to.

Ein Versuch, der  nahtlosen und geräteübergreifenden Konsum von Nachrichten zu ermöglichen, macht die jüngst gestartete Nachrichtenseite Quartz – qz.com. Einer der Redakteure von Quartz beschrieb das Selbstverständnis des Vorhabens so:

Slide your mouse across the navigation bar at the top of almost any news site, and there they are, the phantom limbs of the newspaper creatures of old. It hasn’t occurred to them that when there are no pages and sections to constrain you, you are free to reframe your description of reality too.

Das schlägt die Richtung ein, worüber Jonathan Stray neulich nachdachte: Darüber, wie Nachrichtenwebsites personalisiert werden könnten, ließe man das konzeptionelle Korsett der Printzeitung hinter sich:

 If we let go of the idea of single set of headlines for everyone based around current events, we get personalized news feeds which can address timescales longer than the breaking news cycle. Not everyone can afford to hire a personal editor, so we’ll need a combination of human curators, social media, and sophisticated filtering algorithms to make personalized feeds possible for everyone.

Das Medium ist und bleibt eine Baustelle. Die Silos gleichenden altertümlichen CMS werden verschwinden. Modernes CMS werden nur noch „Streams“ veröffentlichen, die flexibler sind als die herkömmichen RSS-Feeds. Inhalte, ob Text, Audio, Video, Bilder oder Daten werden ihren Eigenschaften entsprechend aufbereitet und kombiniert. Softwareroboter sortieren Nachrichten vor, fassen Inhalte zusammen, arbeiten Redakteuren zu. Inhaltsströme werden verbreitet, die auf allen möglichen Geräten laufen, die in den verschiedensten Viewern – Flipboard & Co – gelesen werden. Die bereitgestellten Inhalte werden wieder von Maschinen zerpflückt, semantisch aus- und aufgewertet und fließen dann neu aggregiert in verschiedensten Anwendungen wieder ein. Die neuen CMS werden mit ihren Onlinetechnologien so offen sein, dass sie bereit sind für  Geräte, von denen wir heute noch nichts wissen und die sich dann in wenigen Jahren etablieren werden. Und mit denen und auf denen Berichterstattung stattfinden wird. Man denke etwa an Google Glass. Und schaue sich Prismatic oder Medium an.

Für den Rezipient wird die Zukunft des Nachrichtenwesens, des Journalismus großartig. Dank des Internets ist die Situation jetzt ja schon grandios. Auch für Journalisten sieht es gut aus: Ein so flexibles Trägermedium und die mannigfaltigen Möglichkeiten, Journalismus zu betreiben, hat es noch nie gegeben. Bleibt nur die Jobfrage. Denn für einen Teil der Medienbranche und Industrie wird es noch bitter werden. Das Dilemma liegt selbstverständlich in der Frage der Finanzierung. Und die ist einen eigenen Artikel wert.

Hinweis: in einer früheren Version des Artikels wurde der Autor von Postcard und dem Artikel „A Vision for A Future of Newspapers – 20 Years Ago“ mit Robert G. Kaiser angegeben. Tatsächlich stammte beides von Mark Potts; Kaiser war der Autor des Memos.

 

7 Gedanken zu „Das Medium ist eine Baustelle“

  1. Wer möchte, dass sich nicht nur die Großen solche neuartigen Contentmanagementsysteme zur Bewertung, zum Filtern, Mixen, Kuratieren und Generieren sinvoller Zusammenstellungen und Streams leisten können, auch IT-Laien diese möglichst einfach nutzen können und das ganze zudem nicht nur innerhalb von Konzernen kontrollierter Clouddienste statt finden kann, kann mithelfen entsprechende gerade laufende Entwicklungen z.B. per Crowdfunding als freie Software und Dokumentation allen zugänglich zu machen: http://www.mandalka.name/crowdfunding

  2. Man kann auch in diesem CMS nur unten kommentieren. Wann kommt die Funktion, mit der man dann jede Passage aufgreifen kann; letztlich so wie es schon seit Jahren in den Foren-Systemen wie phpBB oder vBulletin ist? Nur eben in noch besser. 🙂

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