Datenjournalismus 2015: Ein Rückblick

2016 wird das vorerst beste Jahr für Datenjournalismus in Deutschland werden. Diese Prognose kann ich mit gutem Gewissen abgeben. Denn folgen wir dem Bild des “hype cycle” ist der “Pfad der Erleuchtung” erreicht – der “Gipfel der überzogenen Erwartungen” und das folgende “Tal der Enttäuschungen” liegen hinter uns: Es geht langsam aber stetig bergauf, was z.B. im Datenjournalismuskatalog zu betrachten ist.

Einige der in diesem Beitrag erwähnten Arbeiten.

Es zeigt sich aber auch anhand folgender Faktoren:

Mit BR Data hat der erste öffentlich-rechtliche Sender nun ein explizites Datenjournalismusteam (in der Schweiz gibt es das schon etwas länger mit SRF Data). Es besteht derzeit aus sieben Personen. Nach dem Sommer kamen die ersten Werke und insgesamt lässt sich sagen: Das sieht vielversprechend aus. Eine Serie zum Thema Geflüchtete widmete sich u.a. der Frage, wer eigentlich die staatlichen Gelder einstreicht, die in diesem Sektor verteilt werden. Für so etwas ist Datenjournalismus perfekt und sollte öfter angewandt werden. Denn viel zu selten wird sich der Frage gewidmet, wohin denn öffentliche Gelder eigentlich fließen, die “weg” sind. Das jüngste Werk anlässlich des Klimagipfels wagt einen Blick in die Zukunft der Skigebiete: So sollte regionaler Datenjournalismus aussehen. Im Bereich Design/Usability ist aber noch Luft nach oben.

Hoffen wir, dass noch mehr Öffentlich-Rechtliche in Datenjournalismus investieren. Allerdings nicht so wie das ZDF: Angeblich über 150.000 Euro sollen in das Lobbyradar geflossen sein – das hätte für eine kleine NGO ein Jahr lang gereicht oder für 2-3 Stellen in einem Datenjournalismusteam. Doch nun wird das Vorhaben nach gut einem halben Jahr eingestellt, heißt es bei Zeit Online. In gleichem Text wird geraunt, Grund dafür könnte politische Einflussnahme gewesen sein – vielleicht ist er aber auch schlicht die Erkenntnis, dass es sich um eine Fehlkonstruktion handelte. Die Daten und den Code gibt es jedenfalls hier.

Frauen leiten

Das Datenjournalismusteam bei Spiegel Online wurde dieses Jahr auf 2,2 Stellen aufgestockt: Christina Elmer wurden Patrick Stotz und 1/5 Achim Tack zur Seite gestellt. Daraus ergab sich zum Beispiel der Schwerpunkt Betongold, den ich für eines der gelungensten ddj-Werke im deutschsprachigen Raum in diesem Jahr halte. Bleibt die Frage, wie sich der angekündigte 20-prozentige Stellenabbau beim Spiegel auf den Datenjournalismus dort auswirkt. Hinsichtlich von Design und Usability könnten die Hamburger jedenfalls auch noch Verstärkung gebrauchen.

Übrigens: Ein interessantes Phänomen in der doch kleinen deutschsprachigen Datenjournalismuswelt ist, dass von den wenigen Abteilungen die meisten von Frauen geleitet werden (Christina Elmer bei SpOn, Sylke Gruhnwald bei SRF, Ulrike Köppen beim BR).

Die solideste Arbeit in Sachen Datenjournalismus hat dieses Jahr Zeit Online abgeliefert – sowohl inhaltlich als auch ästhetisch (der insgesamt gelungene Relaunch der Website zeugt von einer ausgereiften Digitalkompetenz). In Arbeiten wie zur Ärztedichte oder jüngst zu Brandanschlägen auf Flüchtlingsheime zeigt sich, was ein Haus mit viel Recherchekapazitäten zusammen mit Entwicklern und Designern zu leisten vermag.

Auf deutlich weniger Ressourcen kann das Morgenpost-Interaktivteam zurückgreifen. Auch wenn die Funke-Mediengruppe unlängst ankündigte, ein paar Scheite mehr obendrauf zu legen (was vielleicht auch mit Vorgängen beim Konkurrenten Tagesspiegel zu tun haben könnte, s.u.). Jedenfalls hat das Team dieses Jahr zahlreiche Arbeiten veröffentlicht, die technisch und optisch beindruckend waren und zeigen, wie digitaler Lokaljournalismus auch aussehen kann. Bei manchen der Stücke standen große Vorbilder Pate, was auch immer korrekt erwähnt wird. Zudem ist immer eine ordentliche Eigenleistung erkennbar – im Gegensatz zur FAZ, die recht unverfroren das von der NYT vom New Yorker inspirierte M29-Werk der Morgenpost nahezu eins zu eins nachbaute. Hervorhebenswert ist , dass die Morgenpost-Programmierer von der Firma webkid zahlreiche making-ofs veröffentlichten. Was ich mir bei den Morgenpost-Stücken für 2016 wünsche: mehr “j” ins “dd” – also statt deskriptivem Journalismus mehr Analyse und Investigation.

Einmalig in der Journalistenwelt

Apropos “Pate stehen”: John Burn-Murdoch, Datenjournalist bei der Financial Times, antwortete neulich in einem Interview auf die Frage: “The data journalism community is quite tight-knit. What are the advantages and drawbacks?”:

“… But I think there are big advantages in terms of collaboration: digital journalism as a whole, and especially it seems anything where data analysis and web development are involved, seems to be inherently very collaborative. The whole concept of open source is about riffing on other people’s work, taking something someone else has done and adding to it. That collaborative spirit is a massive help. Without it, we wouldn’t move along as quickly.”

Diese Kultur ist, soweit ich das überblicke, einmalig in der Journalistenwelt. Während z.B. in den Kreisen des Investigativjournalismus doch mehr dem, entschuldigt den saloppen Begriff, “Schwanzvergleich” gehuldigt wird, ist Kooperation und Austausch in datenjournalistischen Kreisen weit verbreitet. In welcher Sparte gibt es sonst noch regelmässige offene Treffen wie ddjhh, ddjmuc, ddjnrw oder ddjberlin? Wo finden sich sonst noch solch aufwendig produzierten Handreichungen wie das Angebot rddj von Timo Grossenbacher (SRF Data)?

Gut, es ist nicht alles eitler Sonnenschein. Viele Themen bleiben meiner Meinung nach im Datenjournalismus noch unterbelichtet: Etwa wird sich dem wichtigen Komplex “algorithmic accountability” weiterhin nicht gewidmet. Oder siehe das eingangs erwähnte Lobbyradar. Ein für mich betrüblicher Vorgang ist auch, dass OpenDataCity, das ich einst mitgründete, offenbar in einigen Turbulenzen ist: Im Oktober verließ das sechsköpfige Entwicklerteam geschlossen die Datenjournalismusagentur; einige von ihnen sind nun wohl beim Tagesspiegel tätig, wie sich u.a. Linkedin-Profilen entnehmen lässt. D.h. es könnte also sein, dass 2016 auch der Tagesspiegel öfter in den Datenjournalismus-Ring steigt. Es gab dort schon vereinzelt ddj-Stücke zu sehen, etwa dieses Jahr “Mehrfahrtgelegenheiten”. (Update: Die Abteilung beim Tagesspiegel heißt „Data Science and Stories“.)

Talente finden

Wenig sichtbar war 2015 in meinen Augen die Süddeutsche (obwohl dort durchaus etwas geschah). Doch das kann sich ändern: Zwar ging Steffen Kühne zu BR Data  – dafür wechselte Vanessa Wormer im Herbst von der Heilbronner Stimme (nach einer Fortbildung in New York) als Datenjournalistin zur SZ. 

Dieses Jahr kam Correctiv richtig in Schwung. Es ist eines der wenigen genuinen journalistischen Startups hierzulande (im Sinne von unabhängig und eines, das eigenständige journalistische Inhalte erzeugt). Krautreporter konnte ja seine vollmundigen Ankündigungen, bei denen auch die Rede von interaktiven Anwendungen und Datenjournalismus war, weitgehend nicht erfüllen. Correctiv setzt jedenfalls Themen um, bei denen Datenanwendungen und Visualisierungen immer wieder eine Rolle spielen. Dabei wäre bei der Vielzahl der Projekte des Recherchebüros – so scheint es mir zumindest – der Rat angebracht: Weniger ist mehr.

Einen weiteren Schub für Datenjournalismus in Deutschland gab die VW-Stiftung, die ein Programm zu Wissenschaft und Datenjournalismus auflegte. Immerhin 750.000 Euro fließen nun in acht Kooperationen, die aus über 80 Einreichungen ausgewählt wurden; mir scheinen die alle recht wissenschaftslastig zu sein. Mal abwarten, was dabei Journalistisches herauskommt. Jedenfalls gab es im Zuge dieses Programmes im November auch eine Tagung in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk-Recherche; dessen Jahrestagung hat sich mittlerweile wohl zu dem ddj-Treffen im deutschsprachigem Raum gemausert.

Selbstredend geschah noch einiges mehr bei verschiedenen Medien, darunter Lokal- und Regionalzeitung, was hier im einzelnen nicht aufgeführt wurde. Aber wie gesagt, Datenjournalismus hat Zukunft. Das zeigte sich nicht zuletzt anhand einer der besten – wie ich fand – Arbeiten dieses Jahr: Airbnb versus Berlin. Die entstand in dem Hochschulkurs »From Reading to Exploring – Visuelles Geschichten­erzählen im Daten­journalismus« in Potsdam. So sei den Redaktionen und Verlagen geraten: Kooperiert mehr mit Hochschulen. Dort finden sich die Talente.

6 Gedanken zu „Datenjournalismus 2015: Ein Rückblick“

  1. Um mal diesen Artikel „datenjournalistisch“ zu kritisieren:

    Sie schreiben, dass die meisten DDJ-Abteilungen von Frauen geleitet werden und nennen dann die drei (mangels „z,B.“ oder „etwa“ muss ich ja von einer abschließenden Aufzählung ausgehen), so dass es am Ende nur 4 oder 5 solcher Abteilungen geben kann (angesichts dessen, was man an Zahlenmaterial so um die Ohren gehauen bekommt, auch wieder nicht verwunderlich). Also: Bei max. 5 DDJ-Abteilungen bei einem Phänomen in der Geschlechterverteilung zu sprechen ist doch etwas nun ja – datenjournalistisch unsauber. Andererseits: Dein/Ihr Vorname Lorenz klingt für mich nach Mann – was wiederum den Beweis des selbst aufgestellten „Phänomens“ erbringt 😉

    Nichtsdestotrotz: Das Thema Datenjournalismus ist ein wichtiges. Ein sehr wichtiges. Ich habe beruflich mit einer Menge frisch ausgebildeter Leute zu tun, die aus allen möglichen Fachgebieten kommen. Was ich da teils haarsträubendes bei grundlegenden mathematischen Kenntnissen erlebe (alles Leute kurz vor oder nach dem Uni-Abschluss) zeigt mir, wie wichtig ein Fach „Zahlen verstehen“ (Und damit meine ich ausdrücklich NICHT das Fach Mathematik!) in der Schule und in sämtlichen Studiengängen wäre.

    Aber: Ich sehe jetzt zumindest, dass es ein Glas gibt, wo zumindest der Boden bedeckt ist. Ich freu mich, wenn es sich mehr und mehr füllt.

    In diesem Sinne: Vielen Dank für den Überblick, und einen entspannten Jahresausklang!

    Markus

    1. Danke für den Kommentar. Ja, die Probe ist klein. Ich finde das bemerkenswert angesichts der Verteilung von Leitungspositionen im Journalismus bzw. in Verlagen/Redaktionen sonst. Ob das Zufall ist oder etwas anderes dahinter steckt, wäre eine Debatte wert.

      1. Unter dem Aspekt ist es natürlich bemerkenswert! Als DDR-Kind ist die berufliche Gleichstellung in meinem Kopf wahrscheinlich nach wie vor noch viel zu selbstverständlich und entsprechend überempfindlich reagiere ich auf „Sensationsmeldungen“ die für mich eben nur Selbstverständlichkeiten dokumentieren. 😉

        LG Markus

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