Die betretbare Infografik

Wie wir Virtual Reality im Lokaljournalismus einsetzen wollen

Seit Ende vergangenen Jahres arbeiten wir an einem Virtual Reality-Projekt zum geplanten Autobahnausbau in Berlin. Wir denken, VR ist ein großartiges Medium für die Auseinandersetzung mit städtebaulichen Vorhaben. Denn es lässt eine Situationen weit vor der eigentlichen Realisierung räumlich erfahrbar machen. Insofern sollte man VR nicht nur als „Empathie-Maschine“ verstehen, sondern eben auch als Zeit- und Raummaschine.

 [Article in English]

Mit unserem Vorhaben „A100 VR“ wollen wir zeigen, wie der 17. Bauabschnitt der Stadtautobahn ausschauen könnte. Wir setzen dafür ein 3D-Stadtmodell der deutschen Hauptstadt ein und kombinieren 360-Grad Fotos mit computergenerierten Bildern. Es geht also nicht um einen 360 Grad-Film, sondern wir realisieren ein non-lineares interaktives Stück auf Basis von 3D-Grafik.

Das besondere an besagtem Bauabschnitt ist, dass er durch einen dicht besiedelten Teil von Berlin führen soll; knapp ein Kilometer davon als doppelstöckiger Tunnel, der in einer recht engen Wohnstraße wohl von oben im Boden versenkt werden soll. Zwar ist der Baubeginn nicht vor 2022 zu erwarten (wenn überhaupt, denn er ist wie der Autobahnausbau zuvor umstritten). Doch dürfte eine endgültige Entscheidung über seinen Bau deutlich früher fallen.

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Entwürfe für die Darstellung von Fotos kombiniert mit dem 3D-Modell

Es gibt selbstredend Pro und Contra für dieses Vorhaben. VR kann dabei helfen, sich zu informieren: Abstrakte Pläne werden sichtbar – wir können eine „betretbare Infografik“ umsetzen. Voraussichtlich im Juni diesen Jahres werden wir in Kooperation mit dem öffentlich-rechtlichen Sender RBB eine VR-Anwendung veröffentlichen. Der User steht in ihr an einem Tisch vor dem Stadtmodell Berlins: Dort kann er sich einen Überblick über den geplanten Abschnitt verschaffen. An einige Orte entlang der geplanten Route wird er „treten“ können und dort eine Szene, aufgenommen als 360 Grad-Foto, sehen. In dieses Foto mischen wir die geplante Autobahntrasse als 3D-Modell. Zudem spielen wir per Audio kurze Interviews oder Straßenlärm ein (vorher/nachher).

HOHE KOSTEN

Angenommen, VR setzt sich als Medium durch (was noch nicht als sicher gelten kann): Eine große Herausforderung für Journalismus in VR ist der Produktionsaufwand. Der ist bei linearem 360 Grad-Film schon bedeutend; der Einsatz von 3D-Grafik steigert den Aufwand noch. Wir arbeiten derzeit zu viert an dem Vorhaben zur Autobahn: Eine Person an Recherche, Konzeption und Regie, eine programmiert, eine arbeitet an den 3D-Modellen und eine weitere koordiniert das Projekt. Dazu kommen noch die Journalisten und Redakteure auf Seiten des öffentlich-rechtlichen Senders, die Recherche betreiben, Interviews führen und Hintergrundstücke produzieren.

VR jenseits des 360 Grad-Videos dürfte sich also aus Kostengründen kaum so bald als alltägliches Medium im Journalismus durchsetzen. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben gezeigt, wie schwer sich viele journalistische Medien mit interaktiven Stücken und Datenjournalismus tun. Und VR ist noch technologielastiger: Das bedeutet, es müssen Geräte und Software angeschafft werden, für die wiederum weitere Kompetenzen im Team benötigt werden.

Einen weiteren Aspekt gilt es zu berücksichtigen: Es ist nicht einfach, in einer non-linearen Umgebung, in der der User sich frei umschauen kann, den roten Pfaden einer Narration zu vermitteln. Nicht zuletzt deswegen haben wir unsere Arbeit an einem VR-Rundgang (BER VR) durch den Flughafenneubau in Berlin auf Eis gelegt: Uns fehlen, neben einer ausreichenden Finanzierung, nicht zuletzt Informationen (z.B. konkrete Baupläne), um die Probleme richtig darzustellen – der Skandal um die kostenfressende ewige Baustelle am Rande Berlins ist vielschichtig und komplex. Dem entgegen ist über den geplante Autobahnbau deutlich einfacher zu berichten.

DIE PRODUKTION WIRD EINFACHER WERDEN

Allerdings ist davon auszugehen, dass sich in den nächsten Jahren Software und Produktionspipelines etablieren, die die Kosten deutlich senken werden. Es sind heute schon Werkzeuge verfügbar, die VR-Veröffentlichungen vereinfachen – neben der Unity3D-Engine (das Projekt „Carte Blanche“ wurde unlängst angekündigt) wäre da z.B. Vizor zu nennen. Zudem gibt es stetig Fortschritte darin, Umgebungen als 3D-Objekte zu erfassen – neben der Lidar-Technologie scheint Project Tango von Google vielversprechend, die entsprechende Sensoren in Tablets (und später) Smartphones integriert. 

Aufwand und Kosten für VR-Journalismus lassen sich auch damit rechtfertigen, dass sich aus dem dem gleichen Material parallel zur VR-Darstellung recht einfach klassische interaktive Anwendungen im Browser, Animationen/Videos und (Print-)Grafiken erstellen lassen. Auch spielt es eine Rolle, dass die Idee von Open Data sich nach und nach durchsetzt: Viele Stadtverwaltungen arbeiten mit 3D-Modellen für die Stadtentwicklung. In Berlin sind sogar zwei Stadtmodelle (eins & zwei) im 3D-Format zugänglich (warum die beiden Senatsstellen nicht gemeinsam ein Modell entwicklen, liegt wohl Verwaltungslogik zugrunde). 

VR ist ein aufregendes Medium. Nach rund einem Jahr Arbeit in Virtual Reality lässt sich eins mit Sicherheit sagen: Ein noch weitgehend unbestelltes Feld wartet auf seine Erschließung durch Formate, von denen wir derzeit höchstens eine erste Ahnung haben.

Am 23. September 2016 findet die 2. Virtual Reality Konferenz für Journalismus und Dokus in Berlin statt – Link.

3D Modell Quelle: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt Berlin, Abt. II / Stadtmodelle – Digitale Innenstadt

Die Entwicklung von A100 VR wird durch das Medieninnovationszemtrum Babelsberg (MIZ) gefördert.

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