Die substantiellen Probleme von Spiegel Online

spUnbestritten ist Spiegel Online eines der führenden Nachrichtenportale im deutschsprachigen Raum. Warum eigentlich und vor allem: Wie lange noch?  Es scheint, als ob sich auf den Lorbeeren des Grimme Online Awards von 2005 ausgeruht wird. Den begründete dessen Jury damals so: “Stets war das Angebot auf der Höhe der Zeit, ohne die Inhalte unter technischen Experimenten zu verdecken.”

Ja, technische Experimente kann man SpOn tatsächlich nicht vorwerfen. Aber das ist einer der Gründe, warum neun Jahre später nicht mehr von „auf der Höhe der Zeit“ gesprochen werden kann: Vom Einsatz neuer Formate oder dem virtuosen Umgang mit Webtechnologien kann bei SpOn wahrlich nicht die Rede sein; hinsichtlich von Darstellungsformen und Herangehensweisen hinkt die Nachrichtenseite den Flagschiffen New York Times und Guardian zwei oder drei Jahre hinterher – in der Internetzeitrechnung entspricht das eben zwei oder drei Generationen. Das lässt sich erahnen, liest man etwa die Hintergründe zum NYT-CMS oder die Einträge beim Guardian Beta-Blog.

Die offenbar mangelnde Vision und Strategie wird eher früher als später ein substantielles Problem für SpOn darstellen.

Schaut man sich die jüngste Veröffentlichung zu NSA und Deutschland auf SpOn an, erstaunt, wie solch eine Geschichte ohne zeitgemäße Mittel des Webs erzählt wird. Die interaktive Karte zum Text mit den „geheimen NSA-Standorten“ gleicht eher einem Witz, ist wohl eine lieblos aufgebohrte Version einer Printgrafik (s.o.). Die NSA-Schriftstücke nur als pdf-Dateien zu veröffentlichen, wird dem Netz von 2014 nicht gerecht und ist schlichtweg unpraktisch. Dass z.B. Zeit Online das System DocumentCloud einsetzt, also PDF per Schrifterkennung behandelt und damit auch durchsuchbar macht, scheint an SpOn vorbeigegangen zu sein.

Online tritt die Spiegel Gruppe auf diese Weise die Geschichte mit den Füssen, weil man offenbar auf Biegen und Brechen sein Printheft verkaufen will. Dabei liefert die Enthüllung immerhin den „rauchenden Colt“;  u.a. beweisen die Unterlagen, dass zumindest ein Staatssekretär unter dem damaligen Innenminister Friedrich 2012 direkt mit der NSA kooperiert hat – es wirkt noch unglaubwürdiger, dass die Bundesregierung nichts von der Massenüberwachung gewusst haben will. Der Print-Spiegel in allen Ehren, aber solch eine Geschichte könnte richtig Druck entfalten, wenn sie online adäquat aufbereitet wird. 

Doch wieder einmal scheint hier der Irrsinn des Spiegel internen Print versus Online zugeschlagen zu haben. Schon 2010 konnte die Spiegel Gruppe im Web nur eine klägliche Aufbereitung der Wikileaks “Kriegstagebücher” zu Afghanistan bringen, weil die Redaktion des Print-Spiegels die Onliner erst spät einbezog.

Den einzigen Fortschritt, der sich seitdem hinsichtlich Webtechnologie bei SpOn erkennen lässt, ist, dass man sich mittlerweile von der Flash-Technologie verabschiedet hat. Aber eine konsistente Strategie, wie man interaktive Formate, Datenjournalismus und Longreads online bringen will, scheint es weiterhin nicht zu geben. Geschweige denn die Bereitschaft zur Investition in eine Querschnittsabteilung, die ressort- und trägermediumsübergreifend Grafik-, Interactives und Datenanwendungen konzeptioniert und entwickelt.

Das wird ersichtlich, betrachtet man etwa zum einen die “Mein Vater, ein Werwolf” Scrollgeschichte von Anfang des Jahres (die übrigens explizit mit “Der Spiegel” gebrandet ist) –  und vergleicht man diese mit der jüngsten “Scrollification” zur Fußball-WM von SpOn. Visuell gibt es zwischen den beiden keine Verbindung, sie könnten von zwei völlig verschiedenen Publikationen stammen. Die Existenz eines Style-Guides oder die Hand einer Art-Direktion ist nicht zu erkennen. Offensichtlich ist nur, dass der Print-Spiegel einiges mehr an Budget für so etwas hat als die Onliner: Dabei hätte deren WM-Geschichte einige tausend Euro mehr vertragen, um in gestalterischer und interaktiver Hinsicht einen Feinschliff zu erhalten.

Die Zwei Klassen-Gesellschaft in der Spiegel Gruppe, also die Printredaktion mit ihren Gesellschafteranteilen (Mitarbeiter-KG) versus Online ohne Anteile am Verlag, bleiben das zentrale Problem. Dabei muss online schnell etwas geschehen, sonst verliert SpOn hier bzw. gewinnt hier nie relevante nachwachsende Lesergruppen. Ein weiteres Indiz für die Inkonstistenz in der Online-Strategie zeigt der YouTube Kanal von Spiegel Online mit sage und schreibe neun Videos (bei SpiegelTV sieht es besser aus). 

Solch Fahrlässigkeit gegenüber relevanten Plattformen dürfte sich bald bitter rächen, wenn nicht radikal gegengesteuert wird. Siehe etwa den vielzitierten Innovation Report der NYT, aber auch dessen Kritik “What if Quality Journalism isn’t” von Thomas Baekdal. Zudem drängen auf den europäischen und deutschsprachigen Markt neue Player: Neben Vice und Buzzfeed ist Politico zu nennen, das nach Brüssel kommen will. Auch plant die NZZ offenbar, mittelfristig eine Onlineredaktion für Deutschland aufzubauen. Und es bleibt abzuwarten, welche Dynamik Plattformen wie Krautreporter entfalten.

Die Spiegel Gruppe steht sich jedenfalls selbst im Weg. Nur mit Ideen, Mut, Experimentierfreude und Investitionen ins Netz wird sich ein Verlag in diesen Zeiten auf Dauer behaupten können.

10 Gedanken zu „Die substantiellen Probleme von Spiegel Online“

  1. Durchaus schlimmer als die hier beschriebenen technischen Defizite sind die Inhalte. Spiegel online wird immer belangloser. Selbstverständlich ist nicht jeden Tag ein journalistischer scoop zu erwarten. Jedoch: die Artikel sind nicht selten in kürzester Zeit (eine Zigarettenlänge) gelesen. Kein Wunder bei manchen Themen: Tipps für Fernbusreisen: Angebote gibts im Internet. Aha, toll! Oder: Tipps gegen die sommerliche Hitze. Da erfährt man, dass man, falls man schwitzt, das Sakko ausziehen kann. Der Wahnsinn! Ein hochrangiger Manager leistet einen „Offenbarungseid“ ( den gibt es seit Jahrzehnten nicht mehr). Ein Ratespiel: welche Industriellen und andere Berühmtheiten fahren welches Dienstfahrzeug? Lustige Verkehrsschilder. Lustige Restaurantfotos. Irgend ein Mensch auf dieser Welt hat irgendeine rätselhafte Darmerkrankung. Ultra spannend! Stilistisch nähert sich dies mehr und mehr dem „BILD“-Stil an. Etwa wenn mir befehlshaberisch verkündet wird, was ich „jetzt“ zu irgend einem Fußballthema „wissen muss“. Ein erregender Beitrag zum Thema: kann man im Bordell den Preis verhandeln? Der Beitrag hatte Schülerzeitungsniveau.
    Eine Mitarbeiterin des „Spiegel“ versicherte mir telefonisch (sie warb auf diesem Weg für Probeabos), diese Boulevardisierung würden die Leser halt haben wollen. Das mag nicht unzutreffend sein, wenn etwa ein „Forist“ einen Kritiker anherrscht, er könne ja schließlich auch die „ZEIT“ lesen, wenns ihm nicht passen würde.
    Es ist ein Jammer. Aus dem „Sturmgeschütz der Demokratie“ wird eine Wasserpistole. Ein Interview mit Herrn Rösler über seine neue Tätigkeit: 30 Sekunden Lektüre, komplett belanglos. Und so viele gerade mal ein wenig überarbeitete dpa-Meldungen. Ich las neulich in Buchform die „Spiegel“-Gespräche mit Willy Brandt. Sensationell. Das waren noch („Spiegel“-) Zeiten.
    Schade.

    1. Genau das habe ich mir auch schon öfter gedacht, vielleicht werde ich auf die Apotheken-Rundschau oder ein ähnliches Gratis-Blatt wechseln, da ist auch immer über Maßnahemen gegen Hitze und Darm-Erkrankungen die Rede.

  2. Diese Scroll-Collagen sind mir stets ein Graus – beim Versuch den Text zu lesen, weiß man teilweise nicht, ob es sich um einen Bug handelt, oder die Darstellung wirklich so konfus sein soll. Ich weiß nicht, wer solch eine Darstellungsform für eine gute Idee hält – ich wünsche mir hier die Möglichkeit eines reinen RSS-Feeds oder die Option, den Text vollständig in Notepad oder einen ähnlichen Editor zu kopieren, damit man den Text vernünftig lesen kann. In der vorgesehenen Form ist das Lesen eine Zumutung.

  3. Der erste Scroll-Artikel funktioniert bei mir nicht, den zweiten finde ich etwas nervig.

    Mag sein, dass es Zielgruppen gibt, für die „Hauptsache neu“ das Kernargument ist. Mag auch sein, dass Experten der Meinung sind, dass die Mehrheit der Internetnutzer den halben Bildschirm mit fixierten Titelleisten, durchrollenden Bildern, riiiiiiesigen Schriften, Häppchen-Informationen, langatmigen Videos mit Zwangs-Werbung, Klickorgien und ähnlichem verbringen möchte.

    Ich persönlich finde das eher nervig und bin Spiegel Online für seine konservative Gestaltung durchaus dankbar. Spätestens wenn man sich bei anderen Seiten erst einlernen muss, um die „innovative“ Gestaltung bedienen zu können, oder wenn die Informationen abseits des PC-Browsers (z.B. auf einem Smartphone) nicht mehr sinnvoll verwendbar ist, merkt man, dass Neuerungen oft weniger dem Nutzen des Lesers dienen als dem Ego oder Einkommen der Ersteller.

  4. Nachdem zum zweiten Mal ohne irgendeinen Hinweis mein Account für’s Forum gelöscht oder gesperrt wurde, habe ich es aufgegeben, im SPON-Forum mitwirken zu wollen. Die Zensurbehörde beim Spiegel …

    [Bitte zum Thema kommentieren, es geht hier nicht um das Forum von SpOn – LM]

  5. In meinen Augen geht die Kritik am Spiegel nicht weit genug: Das eigentliche Problem ist nicht der Auftritt, also die Form, sondern die Qualität des Inhalts. Schlechter Inhalt nett verpackt ist pure Effekthascherei.

    Der Spiegel ist in vielen Fällen, selbst wenn wir EINFACHE technische oder naturwissenschaftliche Themen betrachten, nicht einmal in der Lage, den eigentlichen Sachverhalt korrekt darzustellen. Ein Paradebeispiel für die Problematik ist die Energiewendediskussion. Es ist offensichtlich, dass Spiegelmitarbeiter einfache Datensätze und Zusammenhänge nicht mehr verstehen, obwohl hier vieles zum Teil wunderbar aufbereitet auf wenigen Internetseiten vorliegt.

    Es ist nur ein extrem schwacher Trost, wenn das selbe Problem in vielen Artikeln der FAZ auftaucht, eine Zeitung, die in der Vergangenheit durch gediegenen naturwissenschaftliche Inhalte auffiel.

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