Automatisier' Dich, Lokaljournalismus

Die Stärke des Lokaljournalismus lag immer auch in einer groben ortsbasierten Personalisierung. Im Digitalen nutzt er die vielfältigen Möglichkeiten dafür kaum. Das liegt wesentlich am Print-Paradigma, das sich in den Content Managment Systemen (CMS) manifestiert und Weiterentwicklung verhindert. Stattdessen braucht es Herangehensweisen, die kleinteilig Alltagsinformationen in einzelne Datenpunkte zerlegt und abrufbar macht.

Manchmal träume ich davon, es gäbe zeitgemäßen Lokaljournalismus. Als digitalen Service, der mir morgens oder ad hoc punktgenau wesentliche Informationen für den Alltag bezüglich meines Wohn- und Arbeitsorts mitteilt. Der mich über die Verkehrssituation (S-Bahnausfall in der ganzen Stadt), Politik (Hotelneubau in deiner Nachbarstraße beschlossen), Kultur (Theaterstück X läuft kommende Woche zum ersten Mal), Infrastruktur (Sperrung des Schwimmbads wg. Renovierung), Angebote (Supermarkt an der Ecke: 10% auf alles), Bildung (wieder Kitaplätze frei), Nachbarschaft (wer hilft mit bei Renovierung des Grillplatzes), Sport (die B-Jugend hat 3:5 verloren), Alltag (morgen ist Sperrmüll) usw. usf. informiert. Gerne darf dieses Angebot auch „lernen“, was mich interessiert und mich auf Hintergrundstücke sowie Reportagen mit weiterem lokalen Bezug hinweisen.

Es ist schwer verständlich, warum Lokalzeitungen immer noch nicht hyperlokale oder sublokale Angebote dieser Art anbieten: Ein personalisierter Bericht – egal ob per Mail, App, Website, Messenger, Spracherzeugung (z.B. Amazon Echo) übermittelt. Die Daten dafür sind vorhanden, mehr und mehr davon. Aus ihren Strömen lassen sich kurze und knappe Informationshappen straßen- und interessengenau automatisch generieren. Es wird wahrlich keine Raketentechnologie mehr dafür benötigt, um klein damit anzufangen.

War nicht Personalisierung in Form von Lokalisierung die Stärke des Lokaljournalismus? Ist es wirklich so fernliegend, dass Lokalzeitungen (wieder) Aufgaben des Gemeinwesens übernehmen? Insgesamt ist die Nische im sublokalen Level so groß, dass sie einer klaffenden Wunde gleicht. Die hauptsächlich konsumgetriebenen Angebote von Google, Yelp usw. decken dort nur einen kleinen Teil des Möglichen und des Bedarfs ab. Dieses Niemandsland – Kommunalverwaltungen liefern hier ebenfalls nicht – hat noch kein Anbieter im Digitalen wirklich besetzt. Doch das dürfte nur eine Frage der Zeit sein. Vielleicht gelingt es Nachbarschaftnetzwerken (warum betreiben Lokalzeitung solche eigentlich nicht?) wie nebenan.de hier Fuß zu fassen oder eben einer der Internetgiganten.

Die CMS-Falle

Immer noch haben Lokalzeitungen mit ihrem lokalem Know-how und ihrer Vertrauensbasis einen – wenn auch schrumpfenden – Vorsprung. Weil ihr Print-Leserklientel mit ihrem Onlinepulikum wenig übereinstimmt, kannibalisieren sie sich mit neuen digitalen Produkte nicht. Doch ohne Investitionen wird es nicht gehen, will man das eigene Onlineangebot nicht nur als Beiprodukt der gedruckten Zeitung verstehen, die weiterhin erstmal der wichtigste Erlösfaktor ist. Dafür müssen die Verlage und Reaktionen aber aus der CMS-Falle heraus: Die Content Managment Systeme sind weiterhin im wesentlichen durch Print geprägt und schleifen oft technischen Ballast vieler Jahre mit sich; ihre grundsätzliche Konstruktion verhindert die Weiterentwicklung der Nachrichtenwebsites und Dienste darüberhinaus. Ihre Funktionalität, sowohl die für die „Leser“ als auch für die Redaktion selbst, verliert immer mehr den Anschluss an den permanenten Kulturwandel bei der Internetnutzung. Deshalb muss man sich im Digitalen endgültig von der Printmetapher lösen, die letztlich immer noch jeden Inhalt in Artikelförmchen presst: Der Bericht über ein Autounfall wird im Prinzip gleich behandelt wie das Hintergrundstück zum Korruptionsskandal in der Kreisverwaltung.

Beim Abschneiden der alten IT-Zöpfe geht es nicht darum, die Idee des Structured Journalism zu verfolgen: Journalistische Inhalte werden in kleine themenbezogene Bestandteile aufgesplittet, die sich nach Bedarf remixen lassen, um daraus zügig und dynamisch auch komplexere Sachverhalte unterfüttern zu können oder neue Formate anzubieten. (Im Prinzip keine falsche Idee, nur schwer praktikabel).

Vielmehr muss es darum gehen, den „wahren“ Journalismus von dem Service und der reinen Berichterstattung (ohne Analyse und Einordnung) zu befreien. Die aus den Datenströmen gewonnenen Informationsteilchen sind nicht dafür gedacht, zu Beiträge zusammengesetzt zu werden. Nein, sie dienen als eigenständige Einheiten dazu, den einzelnen User spezifisch bedienen zu können: Die Sperrung einer bestimmten Straße wegen Bauarbeiten ist nur für wenige Prozente der „Leserschaft“ interessant, aber für diese eben sehr relevant.

Frühwarnsystem per Daten

Zweitens lässt sich durch die Automatisierung des Einlesens der diversen Datenquellen (siehe Schaubild oben) und ihrer Auszeichnung mit Schlagworten, Metriken und Geokoordinaten Vorgänge in der Stadt und Region monitoren. Dank des ständigen Wachsens des eigenen Datenwissens – angereichert durch das Auslesen bestehender Archive – lassen sich immer solidere Auswertungen durchführen; Frühwarnsysteme können seltsame Muster erkennen. Die Verspätung im ÖPNV steigt an allen Stationen in einem Teil der Region sprunghaft an: Was ist da los? In besagter Straße ist zum dritten Mal innerhalb von 18 Monaten eine Baustelle. Was hat es damit auf sich? Die Daten des Ratsinformationssystems zeigen, dass ein Lokalpolitiker seit sechs Monaten nicht bei den Sitzungen erscheint. Wäre das kein Anlass für ein Interview?

Es entsteht ein System, das modular erweitert werden kann und so zukunftsfähig ist. Es lässt sich Schritt für Schritt durch weitere Datenquellen anreichern und per Schnittstelle (API) können neue Dienste angebunden werden – etwa ein Chatbot, der Fragen der Nutzer beantwortet. Denkbar ist auch, dass über den personalisierten Kanal „Leser“ auch zurücksenden können; sowohl in der situativen Berichterstattung als auch in der Recherche dürfte das äußerst hilfreich sein. Die Redaktion kann gezielt Anfragen an Nutzer in einer spezifischen Region des Verbreitungsgebiet stellen; Texte, Fotos, Audio, Videos und Messwerte treffen per Mobiltelefon in kürzester Zeit ein. Und warum übergibt man die Berichterstattung vom Jubiläum des Kaninchenzüchtervereins – das eigentlich nur dessen Vereinsmitglieder nebst Familien interessiert – nicht gleich an einen verlässlichen Nutzer aus diesem Kreis? 

Die Einführung solch eines Systems setzt selbstredend entsprechende Software voraus. Und entsprechendes Personal: Eine Datenredaktion, die Datenquellen auftreibt und einbindet; die die Daten-Engine füttert. Bleibt die Frage, ob Verlage und Redaktionen dazu bereit sind, sich einem solchen wesentlichen Strukturwandel zu unterziehen: Ein Teil der alltäglichen Arbeit und Routinen würde durch die Automatisierung wegfallen. Was macht man mit dem überflüssigen Personal, kann das überhaupt etwas anderes? Lässt es sich weiter finanzieren? Sicher ist, neue Formen von Diensten werden auch neue Verdienstmöglichkeiten erschließen. Reicht das, den Wegfall anderer Erlöse zu kompensieren? Schwer zu sagen, ohne es ausprobiert zu haben. Doch wenn es die Lokalzeitungen nicht tun, macht es früher oder später wer anderes.

2 Gedanken zu „Automatisier' Dich, Lokaljournalismus“

  1. ‚Journalisten‘ braucht es dafür aber nicht mehr, das können auch mit Zeittarif bezahlte Hilfskräfte. Das Ergebnis wäre übrigens die perfekte Filterblase, wenn es jemals so einen perfekte Algorithmus geben würde, wenn ich mir die ’nutzerspezifischen‘ Angebote bei Google News betrachte.

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